Mittwoch, 5. März 2014

Verdeutlichung: Was macht eine Dystopie aus

Die Kommentarfunktion ist, so leid es mir tut sehr ungenügend für eine würdige Diskussion zum Thema und es bedarf vieler Worte für mein Vorhaben, also habe ich versucht mir eure Kritik zu Herzen zu nehmen und habe mich an der Dystopie abgearbeitet. Lasst uns bitte am Freitag alle darüber reden, denn ich für mich persönlich halte es für ein wichtiges Thema, dass wir als Science-fiction-Fans nicht so im Raum stehen lassen können. Der Wikipedia-Eintrag, das hätte Redshirt60 vollkommen richtig ausgeführt, ist äußerst dürftig und literaturwissenschaftlich eine totale Katastrophe. Meine Argumentation ist sicher auch nicht an allen Ecken und Enden richtig und hat keinen Anspruch auf Vollständigkeit, aber mir brennen diese Punkte unter den Fingernägeln. Ich will zeigen, warum ein Happy-End keine Dystopie in ihr Gegenteil verwandeln kann. Der Auftrag der Dystopie ist das entscheidende Kriterium. Hier nun der text, der nicht in einen Kommentar passt. Wir brauchen ein Forum für derartiges, Turon!!!!

"Und wenn es wirklich einen 'richtigen Weg' gäbe, sich einer Dystopie zu nähern (wie Dein letzter Kommentar nahelegt), hättest Du in Deinem Interview kein Streitgespräch darüber führen oder keinen Artikel dazu schreiben müssen." - turon47

"Das Grundproblem ist doch eher, dass es an einer vernünftigen, vor allem analytischen Definition mangelt. Wenn ich mir den Wikipedia-Eintrag zu Dystopie ansehe, schaudert es mich. Alles nur relationale positivistische Beschreibungen. Vor allem die Liste der vorgeblichen dystopischen Filme...?" - Redshirt60



Es ist sehr leicht sich aber nur einen Punkt heraus zu nehmen und diesen für bare Münze und als einzigen Kritikpunkt zu nehmen. Es ist richtig, dass Herr Pröve diese Meinung im Interview vertritt. Sie ist aber grundfalsch und verfälscht das Wesen einer Dystopie. Carl Schmitt war es, der die Ausnahme von der Regel definierte. Ein Gesetz bleibt trotzdem bestehen, selbst wenn es Ausnahmen, da diese nur die Regel bestätigen. Der Protagonist ist eine solche Ausnahme innerhalb einer Gesellschaft - er wird sie dadurch aber nicht verändern, denn er will nur den Zuschauer erreichen.

Ich habe heute mit Baldavez gesprochen und wir haben uns zu den Ursprüngen gewagt und uns Thomas Morus vorgenommen. Vielleicht kennt ja der ein oder andere "Utopia". Dabei geht es um einen zukünftigen Ort, genauer gesagt einen Staat - man spricht auch vom besten Zustand eines Staates im Fall einer Utopie. Des Weiteren sprechen wir dann von einer Utopie, also einem besten Staat, wenn er uns (noch) nicht realisierbar erscheint. Liegt es nicht nahe, genau dann von einer Dystopie zu sprechen, wenn hier ein Staat vorliegt, der menschenunwürdig, einseitig machtverteilt und zugleich unwirklich erscheint?

Es ist egal, ob wir von einer Utopie oder einer Dystopie sprechen - in beiden Fällen sind die Staaten oder staatlichen Gebilde, soziale Bedingungen und dazugehöriges Konfliktpotential mit allem, was dazu gehört, die Voraussetzung und die Bedingungen, die zur Geschichte einen erheblichen Anteil haben und nicht nur bloßes Setting darstellen. Utopie = wünschenswerter Staat; Dystopie = schrecklicher Staat.

Nächster Punkt: die Handlung. Hier muss man überhaupt nicht großartig analytisch vorgehen. Der Protagonist handelt in Wechselwirkung mit seiner Umgebung. Er muss dabei aber erst ein gewisses Verständnis für das Richtige(siehe 1984, Schöne Neue Welt) entwickeln, also es muss ihm deutlich werden, dass etwas falsch läuft. An dieser Entwicklung kristallisiert sich für den Leser oder den Zuschauer die Kritik der Dystopie, denn meistens werden gesellschaftliche Probleme angesprochen, die sich eher zu heutiger Zeit zutragen. Es geht dabei um Dinge wie Fremdenhass, Militarisierung einer Gesellschaft, Freiheitsentzug durch das Verbot der Selbstbestimmung um nur einige zu nennen - die Palette ist als solche wesentlich größer. In den 50ern war die Science-fiction deswegen wesentlich wichtiger, da sie als Mittel diente, versteckt Kritik äußern zu können.

Kommen wir zu meinem wunden Punkt: Was will uns das Happy End sagen! Es ist der Gegenpol. Es ist das was wir als Folie benötigen, um die Dystopie tatsächlich zu einer solchen werden zu lassen. In einer Utopie wäre so etwas nicht nötig - vermutlich würde sich die Geschichte schlichtweg auf andere Dinge konzentrieren, wie eben die Entdeckung unbekannter Regionen des Alls. Bei einer Dystopie wird sich die Geschichte hauptsächlich um die Nonkonformität des Helden drehen. Das Happy End dient in diesem Fall dazu dies deutlich zu machen. Aber: ändern sich die staatlichen Verhältnisse oder die sozialen Missstände weil Rick Deckard aufhört Replikanten zu jagen - Nein! Sein Platz wird von anderen Jägern eingenommen werden und Replikanten werden weiterhin unerwünscht auf der Erde sein. Das Happy End ändert in diesem Fall rein gar nichts - es zeigt uns nur, dass dieser Gesellschaft etwas entgeht, weil sie künstliche Wesen als minderwertig betrachtet, die uns aber wesentlich mehr an Erfahrungen und Gefühlen geben könnten, wenn wir es zulassen würden. Und deswegen ist dieser letzte Monolog Roy Battys so wichtig und er ist derjenige der diesem Film kein Happy End beschert, denn er stirbt und mit ihm auch seine Erfahrungen und sein ganzer Reichtum an Gefühlen. Dystopie par excellence!

Also nochmal das Happy End dient dem Zuschauer. Es sagt dabei aber nicht, das alles gut wird, sondern nur der Held hat überlebt und bringt sein Love Interest in Sicherheit - mehr passiert aber nicht. Keine gesellschaftlichen Umwälzungen, zurück bleibt nur die Kritik an unserer Gesellschaft - die Unterdrückung diverser Minderheiten.

Ich kann euren Punkt schon nachvollziehen, auf den Zuschauer wirkt das Ende sehr tröstend, aber es wird aus dem Staat keine utopische Gesellschaft. Es geht ja nicht darum, dass man die Handlung des Helden als utopisch klassifiziert, denn es gibt schon heute Menschen, die sich mit aller ihrer zur Verfügung stehenden Macht gegen Missstände zur Wehr setzen, deswegen reden wir aber nicht von utopischem Potential, da es sich um etwas dreht, dass als nicht realisierbar gewertet wird.

Versteht ihr, was ich meine: nicht die Handlungsweise ist die entscheidende und deshalb genauso wenig der Ausgang der eigentlichen Geschichte, sondern es ist die dem Werk immanente Gesellschaft, die als Folie dient um gewisse Konflikte unserer heutigen Unvollkommenheit zu beleuchten - genau das ist die Leistung einer Dystopie: die Kritik an Missständen. Sie wird in ihr am deutlichsten!

Wenn ich wider Erwarten jemanden angegangen haben sollte, tut es mir leid und wenn mein Umgangston etwas rau sein sollte, auch. Ich wollte aber deutlich zeigen, dass ein Happy End eben nicht das entscheidende Kriterium einer Dystopie sein darf, denn wir verlieren so die Kritik aus den Augen, die uns eine Handlung offeriert.

Einen schönen Abend noch,

Strifes.

2 Kommentare:

  1. Na, hier geht´s ja ab! Ich muss zugeben, dass ich Strifes recht geben muss: Dystopische Darstellungen in Filmen zeichnen eher den Hintergrund der Welt in den der „Held“ agiert und sich am Ende vom Geschehen abwendet oder „für die Sache“ opfert. Selten überlebt der Protagonist und ist erfolgreich bei dem Versuch, das vorhandene Machtgefüge zu zerschlagen (siehe Equilibrium mit Christian Bale).
    Allerdings scheint Hollywood in den letzten Jahren mutiger geworden zu sein. (Fast) alle hier genannten Beispiele zählen gemeinhin zu den Klassikern der modernen Kinos, haben also schon einige Jahre auf dem Buckel – und entschuldigen sich zumeist in letzter Minute mit einem Happy End für ihre düstere Darstellung der Zukunft (auch wenn die Buchvorlage oft anderes endet). Doch noch in diesem Jahr kommt ein Film auf uns zu, in dem die Dystopie schwerlich „verhollywodisiert“ werden kann: „The Giver“, zu dt. „Hüter der Erinnerung“ von Lois Lowry. Aus Platzmangel überlasse ich die Zusammenfassung dem Link *Spoilergefahr*: http://www.zum.de/Faecher/D/BW/gym/KJL/lowry.htm.
    Das Buch läuft eigentlich unter Kinder.-und Jugendliteratur und gibt auf seinen ca. 180 Seiten leider nur oberflächliche Erklärungen für die Dinge. Beispielsweise wird nicht erklärt, wie der Hüter die Erinnerungen weitergeben kann – er kann es einfach.
    Der Film startet am 02.10.2014 in den deutschen Kinos mit Jeff Bridges und Taylor Swift in Hauptrollen.
    Zum Ende sei nur verraten, dass es weder für die Gesellschaft an sich (als den Hintergrund der Handlung) noch für den Protagonisten in irgendeiner Weise positiv ausgeht. Es wird sehr deutlich, dass niemand diese Zukunftsversion für erstrebenswert halten kann. Trotzdem kann der Leser nachvollziehen, dass man es innerhalb der Geschichte durchaus für sinnvoll erachtet hat, die Entscheidungen zu treffen, die zu der dargestellten Gesellschaftsform geführt haben. Sofern Hollywood nicht seinen üblichen Happy-End-Zauber ausstreut hätten wir hier die Chance, eine Dystopie der reinsten Sorte zu sehen – im Herbst 2014.

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  2. Da ich als Redshirt ja storylogisch alsbald das Zeitliche segnen werde, erlaube ich mir, hier noch einmal was zum Thema Utopie/Dystopie zu schreiben. Grundsätzlich geht es ja nicht um falsch oder richtig oder um Recht haben bzw. Unrecht haben. Eine solche, spannende Diskussion hilft eher sehr viel, indem Sie dazu beiträgt, eigene Argumente zu schärfen und sich neuen Vorstellungen zu öffnen. In diesem Sinne habe ich von Strifes und den anderen sehr viel gelernt und sage hier schon mal danke.
    Meine Grundüberzeugung ist, dass es zwar einen Quellenbegriff Utopie/Dystopie gibt, jedoch keinen befriedigenden Forschungsbegriff. Ich mach das mal am Blade Runner fest. Strifes stört sich an den rauchenden Schloten, den hungernden Menschen, der düstereren (Nebel-)Atmosphäre. Ich hingegen sehe in dem Film bereits real existierende Megastädte wie Tokio, Kairo, Mexiko-City oder auch New York oder auch Berlin, in denen es extrem viel Hunger und Elend gibt. Statt dessen zeigt der Film aber auch technischen Fortschritt zuhauf und auch wohlhabende Menschen und viel bekanntes (wenn auch nicht geschätztes) wie die US-Einwanderungsbehörde. Das wichtigste aber: ich sehe das Leuchten am Horizont, ich sehe Mitleid, ich sehe Mut, ich sehe Liebe, ich sehe Menschlichkeit. Beim Replikanten (Rutger Hauer), beim Helden (da ist es übrigens vollkommen unerheblich, ob er Mensch oder Replikant ist). Sowohl Philip K. Dick als auch Ridley Scott haben auf ihre jeweils ganz spezielle Weise das Ganze ästhetisch (Nebel!) gefasst, die Story geschärft, um genau das zu zeigen: Menschlichkeit und Zukunft. Ja, das Ganze drumherum sieht nicht immer nett aus, ja, ich kann verstehen, warum Strifes den Plot als Dystopie fasst.
    Ohnehin gibt es meines Achtens kaum Idealtypen, utopisches mischt sich fast immer mit dystopischem. Schon in der Frühen Neuzeit, siehe Thomas Morus oder die Insel Felsenburg.
    Es geht doch darum, dass ein Akteur einen Roman/Film schreibt, in dem er aus seiner begrenzten historischen Warte heraus und in bestimmter Intention (Kritik an den herrschenden Zuständen etc.) sowie in ganz spezieller ästhetischer Absicht (etwa mit den Gattungsspezifika spielend) heraus etwas produziert. Wenn wir das dann Lesen oder Sehen kommt doch unsere ganz eigene Sichtweise/Interpretation noch hinzu. Unsere Maßstäbe, was gut und was schlecht ist, unsere Sehnsüchte und Ängste, halt unsere ganz eigenen Projektionen.
    Was ich aber eigentlich sagen will: Es liegt immer im Auge des Betrachters, ob er oder sie eine Geschichte in diese oder jene Kategorie fassen möchte. Dies hängt von der jeweiligen kulturellen und sozialen Sozialisation ab, vom Lebensalter, Geschlecht etc.; und da ich auf Mut und Menschlichkeit, Liebe und Hoffnung stehe, empfinde ich Blade Runner eben nicht als Dystopie, unabhängig davon, dass Scott aber vermutlich ganz genau das im Sinn hatte. Zudem ist 1982 nicht 2004.
    Vielleicht sollten wir deshalb das Thema differenzieren: in die Logik des Produzenten und die des Rezipienten.

    Euer Redshirt60

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